Die Besonderheiten des Vajrayana-Buddhismus werden zur Zeit gerade heftig diskutiert, dazu ein Interview mit Dzongsar Jamyang Khyentse, Vancouver im Juli 2013, Fragen von Doris Wolter; es erschien bereits leicht gekürzt in der Zeitschrift „Tibet und Buddhismus“
Rinpoche, wenn tibetische Lamas manchmal von der Überlegenheit des Vajrayāna sprechen, wird es oft so verstanden, als blickten sie auf den Pfad des Theravāda hinab. Sie haben einmal gesagt, als Buddhist könne man nichts von dem, was der Buddha gelehrt hat, jemals mit Herablassung betrachten. Wie können wir also – speziell im Westen – diese Unterscheidung zwischen den verschiedenen Pfaden oder Stufen verstehen, ohne in eine Form von Arroganz zu verfallen?
Dzongsar Khyentse Rinpoche: Wenn man von der Größe eines bestimmten Pfades spricht, haben wir Menschen stets die Tendenz, dies als eine versteckte Andeutung zu verstehen, die zu suggerieren scheint, die anderen Pfade seien nicht so gut oder zumindest nicht so effizient. Aber all diese Pfade sind geschickte Methoden, um die Schüler zu inspirieren, sie zu ermutigen und sie damit vor Ablenkungen zu bewahren. Die Unterschiede zwischen diesen Pfaden sollten von Lehrern erklärt werden, die nicht sektiererisch denken.
Der Buddhismus wird in unserer Zeit mehr und mehr auch in die westliche Kultur integriert. Einige Aspekte wie die logischen Begründungen z.B. kommen der westlichen Rationalität sehr nahe. Mit anderen, die uns mysteriös vorkommen und nicht mehr verbunden scheinen mit den grundlegenden Prinzipien von Ursache, Wirkung und Bedingungen, haben wir im Westen oft Probleme. Und obwohl das Vajrayāna sehr überzeugende Herangehensweisen hat, indem es uns z.B. aufzeigt, wie alles auf unserer Wahrnehmung basiert, sind andere Prinzipien, dazu gehören auch die zornvollen Gottheiten, für viele Menschen irritierend. Brauchen wir hier eine abgeklärte Version des Vajrayāna, eine ohne Leichen, Blut und Skelette?
Dzongsar Khyentse Rinpoche: Nein, ganz und gar nicht! Was wir brauchen, ist eine angemessene Erklärung des Vajrayāna. Wenn es zu leicht verdaulich gemacht wird, dann würden alle Leute, auch im Westen, sich in das Konzept der Gottheiten verlieben, vielleicht noch mehr als die Tibeter!
Dzogchen Pönlop Rinpoche vergleicht den Buddhismus und die Kulturen, in denen er vermittelt wird, mit dem Tee und der Tasse. Manche Westler betrachten die asiatischen Tassen als veraltet und würden sie gerne wegwerfen, und in manchen westlichen Werkstätten werden offensichtlich schon neue Tassen produziert – ohne Einbeziehung der erfahrenen Töpfer aus Asien. Wohin führt uns das?
Dzongsar Khyentse Rinpoche: Um dein Bild aufzugreifen: Wir brauchen gute Tassen-Macher! Wir sollten auch in die neuen Tassen-Macher vertrauen können, aber das wird schwierig werden. Ich sehe das als eine große Herausforderung. Sich zu sehr allein auf die tibetische Kultur zu konzentrieren, ist überhaupt keine gesunde Herangehensweise, aber wir müssen uns auch über Folgendes klar sein: Wenn wir all diese scheinbar religiösen Aspekte des Buddhismus aufgeben, berauben wir uns wahrscheinlich damit irgendwann auch vollständig der erstaunlichen, schier unendlichen Fülle von geschickten Methoden.
Stephen Batchelor sagte kürzlich in einem Interview, dass der Buddhismus nur dann im Westen eine Zukunft habe, wenn er im Vergleich zum asiatischen Buddhismus wichtigen Veränderungen unterzogen würde. Er schlägt sogar eine größere Operation am Patienten – d.h. am Buddhismus – vor, selbst auf die Gefahr hin, dass der Patient die Operation nicht überlebt. Was halten Sie von dieser Meinung?
Dzongsar Khyentse Rinpoche: Die Methoden und die Art und Weise, wie der Buddha-Dharma überliefert wird, werden sich stets verändern, ob wir das nun willentlich tun oder nicht. Wenn wir ihn absichtlich verändern und auf eine eher wissenschaftliche, moderne westliche Weise interpretieren, dann kann ich nicht garantieren, dass es dadurch auch gut wird. Ich kann nicht garantieren, dass es dadurch perfekt wird. Es liegt die Gefahr darin, dass man auf diesem Weg die Essenz verliert und schließlich erkennen muss, etwas entwickelt zu haben, das zwar unterhaltsamer und leichter verdaulich ist als das Original, aber nicht mehr das bewirkt, was es eigentlich bewirken sollte.
Ich hänge nicht so sehr an der Tradition und der Kultur, die vor 1000 Jahren geherrscht haben. Mich interessiert vielmehr, was vor 2500 Jahren war! Ob also diese Operation durchgeführt wird oder nicht und ob der Patient sie überlebt oder auch nicht – die Wahrheit, die dem Ganzen zugrunde liegt, wird – ob relativ oder absolut betrachtet – immer Wahrheit bleiben: „Zusammengesetzte Dinge sind vergänglich!“ Das galt vor 2500 Jahren in Indien genauso wie im London des 21. Jahrhunderts, und es wird auch in Zukunft gültig sein. Zeit als solche war auch vor der Zeit des Buddha eine relative Wahrheit, und sie ist auch dadurch, dass Albert Einstein dies erkannt und verkündet hat, nicht noch relativer geworden. Auch Reinkarnation existiert auf der absoluten Ebene – der letztgültigen Ebene – weder jetzt, noch hat sie jemals im primitiven Tibet existiert.
Sie nennen sich selbst einen buddhistischen Dschihadistenen. Doch Ihnen liegt sehr viel am Erhalt der Authentizität der unterschiedlichen Übertragungslinien des Buddhismus, und Sie haben hohen Respekt für andere Traditionen. Wie geht das zusammen?
Dzongsar Khyentse Rinpoche: Ah! Wenn man sich für den Erhalt der Authentizität des Buddhismus einsetzt, dann ist das die Quintessenz eines Dschihadisten!
Haben Sie einen Ratschlag, den westliche buddhistische Lehrer und Studierende heute beherzigen sollten?
Dzongsar Khyentse Rinpoche: Den Studierenden des Buddhismus würde ich raten: Hinterfragt und überprüft und analysiert, sucht weiter! Verlasst euch nicht allein auf das, was eine einzige Person sagt! Verlasst euch nicht auf die relative Wahrheit! Seid kritisch! Aber nach einer Weile, wenn ihr alles gründlich geprüft habt, dann lernt auch, Vertrauen zu entwickeln.
Und was die Lehrer ganz allgemein betrifft, ob sie nun aus dem Osten stammen oder aus dem Westen: Sie sollten alle wirklich zurückhaltend, ja – fast schon widerstrebend sein, als Lehrer aufzutreten.